Anitra Karsten
Anitra Karsten (* 11. Dezember 1902 in Turku; † 29. Oktober 1988[1] in Frankfurt am Main) war eine finnische Psychologin und Mitarbeiterin von Kurt Lewin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von ihr stammt die erste empirische Untersuchung zum Phänomen der „Psychischen Sättigung“. Später machte sie sich einen Namen als Gerontologin.
Leben und Werk
Anitra Karsten wurde in Finnland in eine gebildete Mittelstandsfamilie geboren, die ihre intellektuelle Entwicklung zu fördern bereit war. 1922 übersiedelte sie auf Wunsch ihrer Eltern nach Berlin, um ein Hochschulstudium zu absolvieren. Nach einem anfänglichen Literaturstudium wechselte sie an das Psychologische Institut der Universität Berlin, das zu dieser Zeit von den Begründern der Gestaltpsychologie Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Lewin geprägt war. Sie begann ein Psychologie-Studium bei Kurt Lewin, wo sie mit einer Reihe weiterer Lewin-Schülerinnen – u. a. Tamara Dembo, Bluma Zeigarnik und Maria Ovsiankina – an dessen experimentellem Forschungsprogramm Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie beteiligt war. In diesem Rahmen entstand dann auch als ihre Dissertation die Pionier-Studie Psychische Sättigung, die 1928 veröffentlicht wurde.[2]
Ab 1929 arbeitete Karsten in Berlin erst freiberuflich als Werbepsychologin; 1936 erhielt sie die erste Dozentur für Werbepsychologie an der neu gegründeten Höheren Reichswerbefachschule, die sie bis 1939 innehatte. Parallel zu diesen beruflichen Tätigkeiten beteiligte sich Karsten an Forschungsarbeiten des gestalttheoretischen Musikwissenschaftlers Erich Moritz von Hornbostel am Psychologischen Institut Berlin zu Fragen der Einheit der Sinne.[3]
In den Kriegsjahren lebte Karsten in Schweden und Finnland: Zuerst war sie als Kulturreferentin für Finnland in Stockholm tätig, dann als Referentin des Informationsministeriums in Helsinki.
Nach dem Krieg lehrte Karsten Psychologie an der Swedish School of Economics and Business Administration in Helsinki, daneben aber auch an Kindergärten, für Krankenschwestern, Heimleiter und Sozialarbeiter. 1948 wandte sie sich der Altersforschung zu, einem damals noch wenig bearbeiteten Fachgebiet. Auch ihre Arbeiten in diesem Bereich sind von der Lewinschen Feldtheorie geprägt, wie sie sie in ihrer Berliner Zeit kennengelernt hatte.
1949 erhielt sie ein einjähriges Forschungsstipendium der International Association of University Women für einen Forschungsaufenthalt in den USA, für den sie die Universität Ann Arbor in Michigan (nunmehr University of Michigan) wählte. Ihr Forschungsschwerpunkt während dieses Jahres war das Problem der Vorurteile, ein Thema, das sie auch in ihrem weiteren Forscherleben begleiten sollte. Darüber hinaus ermöglichte dieses Jahr in den USA ihr auch die Wiederbegegnung mit Freunden und Lehrern aus der Berliner Zeit, darunter Wolfgang und Lili Köhler, Kurt Lewin, Maria Rickers-Ovsiankina und Tamara Dembo.
1960 kehrte Anitra Karsten aus Finnland nach Deutschland zurück, da sie in Finnland für sich keine Aussicht auf einen Lehrstuhl für Psychologie sah. Nach Gastdozenturen in Erlangen und in Marburg erhielt sie schließlich ein Stipendium für die Erforschung der „Lage alter Menschen auf dem Lande in der BRD“ und einen Lehrauftrag an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Frankfurt. 1964 wurde sie als Gastprofessorin für Gerontologie an die Universität Frankfurt berufen. In der Altersforschung teilte sie die Sichtweise von Charlotte Bühler und Hans Thomae, dass der Prozess des Alterns das ganze Leben umfasse. 1982 gründete sie die „Universität des 3. Lebensalters“ – eine Einrichtung für die universitäre Weiterbildung älterer Menschen und für das Lernen der Jüngeren von den Älteren[4].[5]
Ehrungen
- 1985 Elisabeth-Norgall-Preis
- 1988 Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
Ausgewählte Schriften
- 1928: Psychische Sättigung. In: Psychologische Forschung, 10, S. 142–254.
- 1953: Das Vorurteil. In: Psychologische Beiträge, I, S. 149–161.
- 1960: Wahrnehmung des Alterns. In: Psychologische Beiträge, V, S. 102–104.
- 1961: Altsein und Pensionierung. In: Soziale Welt, H. 3, S. 229–236.
- 1963: Motivation und affektives Geschehen. In R. Meili, H. Rohracher (Hrsg.): Lehrbuch der experimentellen Psychologie. Huber, Bern, S. 281–326.
- 1964: Die Aufgabe einer Altersforschung. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, 12, S. 380–386.
- 1965: Probleme der Alternsforschung. In: Psychologische Rundschau, 1, S. 1–27.
- 1969: Zufriedenheit und Persönlichkeitsstruktur im Alter. In: Veröff. D. Ges. f. Gerontologie, Bd. 2. Darmstadt, S. 99–102.
- 1983: Grundbegriffe der sozialen Gerontologie. Kohlhammer, Stuttgart, ISBN 3-170-07299-4.
Literatur
- Anitra Karsten, in: Ludwig Pongratz u. a. (Hrsg.): Psychologie in Selbstdarstellungen, Band 2. Verlag Hans Huber, Bern/Stuttgart/Wien 1979, S. 77–108.
- Hellmuth Metz-Göckel: Anitra Karsten: Psychische Sättigung. In: S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.): Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften. Beltz, Weinheim 2002, ISBN 3-407-22136-3, S. 285–300.
- Ernst Plaum: „Psychische Sättigung“ – ein zu wenig beachtetes Konzept der Lewin-Schule. In: Gestalt Theory 13 (3), 1991, S. 159–164.
- Esther Ringling: Prof. Dr. Anitra Karsten (1902–1988) – ihr Leben, ihr Lebenswerk. In: G. Böhme, S. Dabo-Cruz (Hrsg.): Gerontologie in Bildungstheorie und Praxis: 20 Jahre Frankfurter Universität des 3. Lebensalters. Schulz-Kirchner, Idstein 2003, ISBN 3-824-80369-0, S. 65–91.
- Maria Seidenschwann: Anitra Karsten (1902–1988). Von der Entdeckung der psychischen Sättigung zur Pionierin der Altersforschung. In: Phänomenal 4 (1–2), 2012, ISSN 2410-2504, S. 86–88.
- Marianne Soff: Von der psychischen Sättigung zur Erschöpfung des Berufswillens. Kurt Lewin und Anitra Karsten als Pioniere der Burnout-Forschung. In: Gestalt Theory 33 (2), 2012, S. 183–200.
Weblinks
- Women of Learning: Anitra Karsten (englisch)
Einzelnachweise
- Anna-Liisa Sysiharju: Anitra Karsten 11.12.1902 – 29.10.1988. Psykologia 24(1989):1, S. 46–47.
- Anitra Karsten: Psychische Sättigung. In: Psychologische Forschung, 10, 1928, S. 142–254.
- Es handelt sich um frühe Synästhesie-Forschungen: Töne, Helligkeiten und Gerüche sollten so in Beziehung gebracht werden, dass sie als „gleich“ hell und hoch wahrgenommen wurden; Grundlage war die Arbeit von Hornbostel: Die Einheit der Sinne, in: Melos, Zeitschr. f. Musik, iv, 1927, S. 290–297.
- siehe Chronik der Universität des 3. Lebensalters und G. Böhme, S. Dabo-Cruz (Hrsg.): Gerontologie in Bildungstheorie und Praxis: 20 Jahre Frankfurter Universität des 3. Lebensalters. Schulz-Kirchner, Idstein 2003.
- siehe dazu den autobiographischen Text von Karsten 1979 sowie Metz-Göckel 2002, Ringling 2003 und Seidenschwann 2012.