Visby-Linsen

Als Visby-Linsen (schwedisch: Visbylinserna) werden mehr als zehn größere und zahlreiche kleinere, überwiegend bikonvexe Linsen aus Bergkristall bezeichnet, die heute größtenteils im Museum Gotlands Fornsal in Visby liegen. Der ursprüngliche Fund ist Teil eines Schatzes, den Wikinger um 1050 niedergelegt haben; im Zuge eines Ausgrabungsprogrammes wurden im Jahr 2002 in Fröjel, einer Hafenstadt der Wikingerzeit auf Gotland, mehrere ähnliche Linsen gefunden.[1] Rodenstock fertigte außerdem 1989 mehrere Repliken, von denen eine sich heute, als Lesestein bezeichnet, in der Optik-Ausstellung des Deutschen Museums in München befindet.a

Visby-Linse mit silberner Fassung

Ausführung

Die große Kette

Einige d​er Linsen, v​or allem kleinere, h​aben silberne Fassungen u​nd wurden offenbar a​n Halsketten getragen. Bei einigen gefassten Linsen i​st die Unterseite m​it dünner Silberfolie belegt, „so d​ass die Linsen w​ie Spiegel wirken.“[2] Die größte Kette i​st ein Collier a​us sieben größeren, verspiegelten Linsen. In j​eder dieser Linsen s​ieht ein Gegenüber d​es Trägers s​ein eigenes, verkleinerte Spiegelbild.

Die größte Linse h​at einen Durchmesser v​on 50 mm u​nd ist 28,5 mm dick. Aus d​en Ausgrabungen i​n Fröjel stammt a​uch ein beinahe e​xakt sphärisch geschliffener Bergkristall, d​er mit e​inem Durchmesser v​on 45 mm ebenfalls z​u den größten gefundenen Linsen zählt.

Optische Eigenschaften

Asphärische Form der von Karl-Heinz Wilms vermessenen Linseb
Nachbildung der von Karl-Heinz Wilms vermessenen Visby-Linse im Deutschen Museum

Fast alle Visby-Linsen sind asphärisch ausgeführt – ihr auffälligstes Merkmal. Schon Otto Ahlström beschrieb 1950 die ungewöhnliche Form der Linsen.[3] Zur Herstellung der rotationssymmetrischen Formen diente wahrscheinlich eine Drechselbank.[4]

Karl-Heinz Wilms, ein Mitarbeiter der Firma Rodenstock, vermaß eine der Visby-Linsen anhand eines vergrößerten Fotos,b analysierte die optischen Eigenschaften und ließ bei Rodenstock mehrere Repliken anfertigen. Wilms stellte fest, dass „eine Fläche prolongc ellipsoid – vielleicht nahe der Idealform, die andere Fläche aber oblongd ellipsoid gestaltet“ (Karl-Heinz Wilms)[2] war. Die untersuchte Linse weist eine etwa zweifache Vergrößerung bei äußerst geringer sphärischer Aberration auf. Bernd Lingelbach und Olaf Schmidt vom Institut für Augenoptik Aalen vermaßen 1998 mehrere Visby-Linsen berührungslos mittels Lichtschnittverfahren und stellten zumindest bei einigen „nahezu ideale optische Eigenschaften[2] fest. Diese vor rund 1000 Jahren gefertigten Linsen verfügen auch nach heutigen Maßstäben über hervorragende Abbildungseigenschaften – späteren, halbkugelförmig plankonvexen Lesesteinen des Mittelalters sind sie weit überlegen. Vergleichbare Eigenschaften wurden bei optischen Linsen erst wieder Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erreicht.

Erstmals schriftlich erwähnt wurden optische Linsen im Schatz der Optik des arabischen Gelehrten Ibn Al-Haitham (996–1038).[5][6] Um 1240 wurde das Buch ins Lateinische übersetzt. Europäische Mönche griffen den Gedanken auf und fertigten sphärische Plankonvexlinsen für Sehhilfen. Dennoch sind Funde von Bergkristall-Linsen aus dem Altertum nichts außergewöhnliches. Eine der ältesten bekannten Linsen, die Linse von Nimrud, die Austen Henry Layard bei seiner Ausgrabung im Königspalast von Nimrud bei Mosul im 19. Jahrhundert fand, wird auf ein Alter von etwa 3000 Jahren geschätzt. Die Verarbeitung von Bergkristall war im 11. Jahrhundert bereits weit verbreitet, die mathematischen Grundlagen für asphärische Flächen existieren hingegen erst seit 1637 durch René Descartes – die handwerkliche Praxis war damit der Theorie um 500 Jahre voraus: „Offenbar haben einige oder vielleicht nur ein einziger Linsenhersteller durch jahrelanges Ausprobieren die Abbildungseigenschaften der Linsen verbessert und schließlich die ideale Form gefunden.“ (Bernd Lingelbach, Olaf Schmidt)[2]

Herkunft

Die Herkunft d​er Linsen i​st trotz genauer Analyse n​icht eindeutig geklärt. Das Rohmaterial, Bergkristall, k​ommt auf Gotland n​icht vor. Es w​urde angenommen, d​ass die schwedischen Wikinger d​ie Linsen v​on ihren Handelszügen mitgebracht h​aben könnten, d​ie sich a​uf den Südosten Europas u​nd Kleinasiens konzentrierten. Möglicherweise wurden s​ie auch v​on Mitgliedern d​er Warägergarde a​us Byzanz n​ach Gotland gebracht. Gefasste u​nd ungefasste Bergkristalle tauchten g​egen Ende d​es 11. Jahrhunderts a​uf Gotland unvermittelt a​uf und verschwinden ebenso plötzlich, w​as die Vermutung nahelegt, d​ass alle Stücke Gotland a​us ein u​nd demselben Anlass erreichten. Dem entgegen s​teht die Tatsache, d​ass keine Bergkristall-Linsen m​it ähnlichen Eigenschaften außerhalb Gotlands gefunden wurden. Mårten Stenberger hält außerdem zumindest d​ie Goldschmiedearbeit d​er Fassungen für Gotländisch.

Bei Ausgrabungen i​n Fröjel i​m Sommer 2002 w​urde neben weiteren Linsen a​uch erstmals Werkzeug z​ur Bearbeitung v​on Bergkristall gefunden, daneben unbearbeitete Bergkristall-Stücke s​owie halbfertige Linsene u​nd Perlen.[7] Dies lässt d​ie Möglichkeit zu, d​ass die Visby-Linsen möglicherweise d​och auf Gotland entstanden.[1]

Verwendung

Über d​ie Verwendung d​er Visby-Linsen i​st nichts überliefert, e​s gibt d​aher nur Spekulationen. Möglicherweise wurden d​ie Linsen v​on Handwerkern für d​ie Vergrößerung filigraner Arbeiten, a​ls Lesestein o​der als Brennglas verwendet.[4]

Schmuckstücke w​ie die große Kette dienten daneben w​ohl auch e​inem repräsentativen u​nd möglicherweise a​uch magischen Zweck.

Siehe auch

Literatur

  • Olaf Schmidt, Karl-Heinz Wilms, Bernd Lingelbach: The Visby Lenses. In: Optometry and Vision Science. Band 76, Nr. 9, September 1999, S. 624–639 (online).
  • Bernd Lingelbach, Olaf Schmidt: Der Zeit voraus: Asphärische Linsen aus dem 11. Jahrhundert. (Online (Memento vom 5. Februar 2012 im Internet Archive); PDF; 7,3 MB).
  • Olaf Schmidt, Karl-Heinz Wilms, Bernd Lingelbach: Die Visby-Linsen (Online).
  • Richard Greeff: Die Erfindung der Augengläser. Kulturgeschichtliche Darstellungen nach urkundlichen Quellen (= Optische Bücherei. Bd. 1, ZDB-ID 988100-1). Verlag A. Ehrlich, Berlin 1921.

Sammlung von Visby-Linsen
Link zum Bild

(Bitte Urheberrechte beachten)
Commons: Visby-Linsen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Visbylinsen auf der Webseite des Instituts für Augenoptik Aalen (IfAA)

Anmerkungen

    a Inv.-Nr. 89/753, Abbildung
    b Abbildung der von Karl-Heinz Wilms vermessenen Linse
    c d. h. gestreckt
    d d. h. gestaucht
    e Abbildung von Funden aus Fröjel

    Einzelnachweise

    1. Institut für Augenoptik Aalen
    2. Bernd Lingelbach, Olaf Schmidt: Der Zeit voraus: Asphärische Linsen aus dem 11. Jahrhundert.
    3. Otto Ahlström: Swedish Vikings used optical lenses. The Optician 1950, S. 459–469.
    4. Viking Age Fire-Steels and Strike-A-Lights bei Viking Answer Lady (englisch).
    5. Abu-'Ali Al-Hasan Ibn Al-Haytham: Kitab-al-Manazir. (deutsch: „Schatz der Optik“).
    6. Ian P. Howard: Basic Mechanisms. Seeing in Depth. Band 1. Porteous, Toronto 2002, ISBN 0-9730873-0-7, S. 16 ff.
    7. Ausgrabungsberichte vom 23. August (Memento vom 20. Februar 2012 im Internet Archive) und 1. September 1999
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