Patriarchat (Soziologie)
Patriarchat (wörtlich „Väterherrschaft, Vaterrecht“) beschreibt in der Soziologie, der Politikwissenschaft und verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird.[1] Gleichbedeutend ist die wenig gebräuchliche Neubildung Androkratie,[2] wörtlich „Herrschaft des Mannes“.[3]
Wortherkunft
Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs „Oberhaupt“, zu archein „der erste sein, Führer sein, herrschen“. Das Adjektiv patriarchalisch hat seit dem 19. Jahrhundert auch die Bedeutung „vaterrechtlich“ (vergleiche patrilinear).[4]
In der ältesten bekannten griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta, wird patriarches in der Bedeutung von „Erzväter“ verwendet. Dementsprechend wurde die Bezeichnung „Patriarch“ im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als Synonym für die Stammväter der Israeliten vor der Sintflut und nach ihr bis zum Auszug aus Ägypten verwendet. Daraus erklärt sich die Assoziation von „Patriarch“ mit einem alten Mann, denn von den Stammvätern der Israeliten wird in der Bibel berichtet, dass sie ein sehr hohes Alter erreichten. Ein jüdisches Patriarchat bestand von 30 v. Chr. bis 415 n. Chr. in Palästina. In der katholischen Kirche wurde die Bezeichnung „Patriarch“ als Ehrentitel für geistliche Würdenträger benutzt.[5]
Die römisch-katholische Kirche wie die orthodoxen Kirchen benennen seit dem Mittelalter bestimmte Bistümer, Diözesen oder Kirchenprovinzen als „Patriarchat“, wie zum Beispiel das Patriarchat von Venedig und das Patriarchat von Moskau.
Abgeleitet vom griechischen und römischen Recht wird als Patriarchat in der Familiensoziologie eine familiale Organisation verstanden, die dem männlichen Oberhaupt in Anlehnung an den pater familias als dem „Herrn des Hauses“ die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen Familienmitglieder zuschreibt.[6][7]
Geschichte
Der älteste griechische Text, der ein Patriarchat bezeugt, ist die Ilias von Homer. Bevor die griechische Flotte in See stechen kann, opfert der Heerführer Agamemnon seine Tochter Iphigenie, um die Götter, die zu Troja halten, auf seine Seite zu ziehen. Hinter dem Agamemnon des Mythos verbirgt sich der Anführer des kriegerischen Volksstamms der Achäer, der im 2. Jahrtausend v. Chr. die auf der Peloponnes ansässigen Völker unterjochte und etwa um 1500 v. Chr. die minoische Kultur auf Kreta, die einzige europäische Hochkultur ohne Patriarchat, ablöste.[8] Wie im Reich der Achäer, so herrschte auch im klassischen Athen das Patriarchat. Uwe Wesel schrieb 1980: „Die griechische Demokratie war eine Männerdemokratie, die Unterdrückung der Frau ohne Beispiel in der damaligen Antike, besonders in Athen“.[9] Plato schrieb, die Frauen seien „daran gewöhnt, verborgen und im Dunkel zu leben“.[10] Das Theater durften sie nicht besuchen, und die Schauspieler waren immer Männer, mit Masken für die Frauenrollen. Die Männer waren also unter sich, wenn die Orestie des Aischylos aufgeführt wurde, die den Konflikt zwischen Mutterrecht und Vaterrecht behandelt. Angeklagt ist Orest, Agamemnons Sohn, der seine Mutter ermordet hat, um den Tod des Vaters zu rächen. Am Ende erklärt die Göttin Athene: „Drum wiegt für mich der Mord an einer Frau doch leichter, die den Mann erschlug.“ Weil ihre Stimme den Ausschlag gibt, wird Orest freigesprochen.[11] Es muss aber auch erwähnt werden, dass die Familienplanung nicht abgelehnt wurde. Aristoteles schrieb: „Die Zahl der zu erzeugenden Kinder ist ja bestimmt. Wenn aber Eheleute durch die Beiwohnung noch weiteren Nachwuchs über diese Grenze hinaus erzielen, so muss man diese Leibesfrüchte, bevor Gefühl und Leben in sie kommt, abtreiben“.[12] Auch die römische Gesellschaft war patriarchalisch organisiert. Der römische Mann hatte das Recht, seine Ehefrau wegen Untreue zu töten.[13]
Die strikte Ablehnung der Empfängnisverhütung und der Abtreibung, die im 4. Jahrhundert zum Dogma wurde, war ein Rückschritt im Vergleich zur liberalen Haltung, die in der Antike herrschte.[14] Das Gebären und Aufziehen von Kindern wurde zur wichtigsten Aufgabe der Frau (Pronatalismus). Die Reformation und der Humanismus änderten daran nichts, wie auch die folgenden Zitate zeigen. In Bezug auf den zu seiner Zeit noch häufigen Tod einer Mutter im Kindbett schrieb Martin Luther 1522: „Ob sie sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nicht. Lass (sie sich) nur tot tragen, sie sind darum da. Es ist besser kurz gesund denn lange ungesund leben“.[15] Und der englische Humanist Thomas Morus ließ seinen Idealstaat Utopia fordern, dass die Frauen verheiratet werden, sobald sie körperlich ausgereift sind.[16] Einer drohenden Übervölkerung sollte durch Auswanderung und Gründung von Kolonien begegnet werden.
Im 20. Jahrhundert verlangten die Interessen vor allem der Konsumgüterindustrie in den kapitalistischen Ländern ein neues Frauenbild. Die Frau wurde nun als Käuferin von Konsumgütern und Haushaltsgeräten umworben, und dazu diente der von Betty Friedan beschriebene „Weiblichkeitswahn“.[17] Mit ihm hat das Patriarchat sich an die veränderten Verhältnisse angepasst. Aber auch als Arbeitskräfte in traditionellen Männerberufen wurden Frauen verstärkt benötigt, vor allem in und nach den Kriegszeiten.[18]
Warum das Patriarchat die Jahrtausende überdauert hat, wurde erst spät untersucht. In Fortführung einer Theorie von Antonio Gramsci, wonach jede stabile Herrschaft auf die zumindest partielle Zustimmung und Mitarbeit der Beherrschten angewiesen ist, schrieb die marxistische Feministin Frigga Haug: „Die einzelnen Frauen finden selbstverständlich […] die gesellschaftlichen Verhältnisse […] zunächst fertig vor. Aber diese Strukturen existieren nur weiter, wenn sie von denen, die in ihnen leben, immer wieder hergestellt werden“.[19] Haugs These, dass das Patriarchat auf die Mitwirkung der Frauen zählen konnte, wird gestützt durch ein Ergebnis der mathematischen Demographie.[20] Danach gab es, bedingt durch schnelles Bevölkerungswachstum und den Unterschied im Heiratsalter, in den patriarchalischen, monogamen Gesellschaften immer einen Heiratsengpass für Frauen, und solange die ledige Frau schlechter gestellt war als die verheiratete Frau, strebten die meisten Frauen nach einer frühen Heirat und nahmen die Nachteile der Ehe in Kauf. Ein bekanntes Beispiel aus der Romanliteratur ist Effi Briest in dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane. Nachdem sie sich, erst 17 Jahre alt, aus freiem Willen mit einem 21 Jahre älteren Mann verlobt hat, freut sie sich, dass sie ihrer Freundin Hulda „zuvorgekommen“ ist.[21]
Patriarchat als politische Legitimationsform
Robert Filmer verwendet in seiner im 17. Jahrhundert abgefassten staatstheoretischen Abhandlung Patriarcha[22] den Ausdruck „Patriarchat“ für eine gottgegebene Autorität, die von Vätern an den ältesten Sohn vererbt werden kann.[23] Auf dieser Basis beruht nach Filmer die Legitimität aller politischen Herrschaft. Die Schrift ist als Rechtfertigung des Gottesgnadentums und des Absolutismus zu verstehen.
Die Überwindung des biblischen Patriarchatsbegriffes zeigt sich zum ersten Mal in der politischen Ideengeschichte als „Emanzipation der Söhne“ Ende des 17. Jahrhunderts bei John Locke, der väterliche Gewalt als Staatsbegründung ablehnte. Als Entgegnung auf Filmer argumentierte Locke, dass die Gewalt des Vaters über den Sohn als Gewalt der Eltern über die Kinder zu verstehen sei. In seiner Neubegründung politischer Gewalt nehmen die Brüder die politische Stellung des Vaters ein, wobei Locke die Emanzipation der Frau vom Mann jedoch ausschloss.[24] Die Politikwissenschaftlerin Carole Pateman bezeichnet dies als „Geschlechtervertrag“ (sexual contract) zwischen Männern, der in dieser Form nicht nur ein vormodernes Phänomen sei, sondern das moderne „brüderliche“ Patriarchat begründe.[25]
Patriarchat als evolutionäre Entwicklungsstufe
Mit der Entwicklung der Anthropologie im 19. Jahrhundert und evolutionistischen Theorien, die alternative Erklärungsmuster zur biblischen Schöpfungsgeschichte und Chronologie anboten, kamen ab 1860 Vorstellungen einer unilinearen stufenweisen Entwicklung der Menschheit und ihrer sozialen Organisation auf, die sich schnell verbreiteten. Auf der Suche nach dem Ursprung der Zivilisation postulierten Johann Jakob Bachofen (Das Mutterrecht) und Henry Sumner Maine (Ancient Law) das Patriarchat als zivilisatorische Errungenschaft von Männern, dem nach Bachofen ein ursprüngliches Mutterrecht oder Matriarchat vorausgegangen war.[24] Bachofen historisierte das Geschlechterverhältnis und stellte die Naturgegebenheit der patriarchalen Familienordnung und das Verhältnis der Geschlechter in Frage. Er hatte dabei keine Kritik am patriarchalen Geschlechtermodell beabsichtigt, sondern vielmehr, dieses zu legitimieren[26] (siehe auch: Geschichte der Matriarchatstheorien). Damit wurden mit dem Begriff Patriarchat erstmals die Beziehungen zwischen Frauen und Männern in den Blick genommen.[24] Und je nachdem, wie man die vermutete evolutionäre Entwicklung als Ganzes und die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse bewertete, wurde das Patriarchat oder das Matriarchat als jeweils höhere oder niedrigere Entwicklungsstufe menschlicher Gesellschaftsordnung beurteilt.[27]
Für Bachofen galt der angenommene Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht als Durchbruch des geistig-männlichen Prinzips, mit dem das höchste Ziel menschlicher Entwicklung erreicht sei.[28] Wie Bachofen nahm auch Lewis Henry Morgan ein ursprüngliches Mutterrecht an. Er war überzeugt, dass diese Gesellschaftsform Vorteile für Frauen aufwies, während der Übergang zur Patrilinearität mit negativen Folgen für die soziale Stellung der Frau verbunden gewesen sei.[29]
Theoretiker des Sozialismus rezipierten Morgans und Bachofens Ideen vom Mutterrecht positiv. Im Gegensatz zu Bachofen beurteilte Friedrich Engels den fiktiven Umsturz des Mutterrechts als die „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“.[30] Die Frage, ob es sich beim Patriarchat um eine politische oder familiale Herrschaftsform handelt, entschieden sie zu Gunsten der familialen.[24] In diesem Sinne ist Patriarchat als Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft seitdem ein fester Bestandteil im Kontext marxistischer Weltanschauung und Wissenschaft.[31] Darauf basierend kritisieren die Vertreter des Freudomarxismus (bzw. der kritischen Theorie) Fromm (1932), Reich (1933) und Horkheimer (1936) die autoritäre Kindererziehung innerhalb der patriarchalen Familie zu einem gesellschaftlich autoritären Charakter als postulierte Grundbedingung zu faschistischen Systemen (siehe auch Studien über Autorität und Familie). Dieses Konzept der Reproduktion des autoritären Charakters aus der (patriarchalen) Familie als „Agentur der Gesellschaft“ wurde von der 1968er-Bewegung[32] sowie in der modernen Kindheitssoziologie (siehe Konzept „Ordnungsfähigkeit“) aufgegriffen und werden darin als weiterhin gültig verstanden.
Marxistische Aktivistinnen der neuen (zweiten) Frauenbewegung beriefen sich insbesondere auf Friedrich Engels, der (frühe) akademische Feminismus übernahm Engels’ Thesen.[33]
Patriarchatsbegriff bei Max Weber
Als Patriarchat wird in der Herrschaftstypologie Max Webers (1864–1920) eine persönliche, auf Gewalt und Gehorsam beruhende Form der traditionalen Herrschaft klassifiziert.[28] Dieser herkömmliche Patriatchatsbegriff wurde in den verschiedenen gesellschaftstheoretischen Debatten als zu eng kritisiert, da er nur für eine bestimmte historische Epoche gelte.[34] Weber erklärte alle Herrschaftsbeziehungen durch Sozialisation und gesellschaftliche Verhältnisse mit Ausnahme der Beziehung zwischen Männern und Frauen, die er auf eine natürliche Geschlechterdifferenz zurückführte.
„Bei der Hausautorität sind uralte naturgewachsene Situationen die Quelle des auf Pietät ruhenden Autoritätsglaubens. Für alle Hausunterworfenen das spezifisch enge, persönliche, dauernde Zusammenleben im Hause mit seiner inneren und äußeren Schicksalgemeinschaft. Für das haushörige Weib die normale Ueberlegenheit der physischen und geistigen Spannkraft des Mannes.“
Der feministische Patriarchatsbegriff
In der feministischen Theoriebildung seit den 1960er Jahren ging es darum, die Naturwüchsigkeit der Beziehung zwischen Männern und Frauen, wie von Weber vorausgesetzt, und damit der Nachrangigkeit von Frauen in Frage zu stellen.[24] Die zweite Frauenbewegung weitete den Patriarchatbegriff auf die Bedeutung allgemeiner, nahezu global verbreiteter Männerdominanz aus[28] und erweiterte ihn zu einem Synonym für ‚männliche Herrschaft und Unterdrückung der Frauen‘. Patriarchat wurde zu einem Sammelbegriff für Strukturen und Formen von Nachrangigkeit, Ausbeutung und direkter sowie symbolischer Gewalt, die Frauen betreffen, und zur Grundlage feministischer Theorie und Praxis.[35][34]
„Patriarchat bedeutet wörtlich die Herrschaft von Vätern. Aber heute geht männliche Dominanz über die Herrschaft der Väter hinaus und schließt die Herrschaft von Ehemännern, von männlichen Vorgesetzten, von leitenden Männern in den meisten gesellschaftlichen Institutionen in Politik und Wirtschaft mit ein […] Das Konzept Patriarchat wurde durch die neue feministische Bewegung als ein Kampfbegriff wiederentdeckt, weil die Bewegung eine Bezeichnung brauchte, durch welche die Gesamtheit von bedrückenden und ausbeuterischen Beziehungen, die Frauen betreffen, sowie ihr systematischer Charakter ausgedrückt werden konnte. Außerdem zeigt der Begriff Patriarchat die historische und gesellschaftliche Dimension der Frauenausbeutung und Unterdrückung an, und ist so für biologistische Interpretationen weniger geeignet als zum Beispiel das Konzept der männlichen Dominanz.“
Patriarchat bezeichnet demnach zugleich ein analytisches Konzept und einen Zustand, den es zu bekämpfen und zu überwinden gilt. Als Schlüsselbegriff feministischer Theorie und sozialwissenschaftlicher Forschung gewann das Konzept Patriarchat an Bedeutung, um „Ungleichheiten und Diskriminierungen, die Frauen in den unterschiedlichen Lebenssphären betreffen, als Teile eines übergreifenden Phänomens zu erfassen.“[34]
Kontroversen
Kate Millett skizzierte in ihrem Werk Sexual Politics (1969; deutsch: Sexus und Herrschaft) Umrisse einer „Patriarchatstheorie“, in der sie postulierte, die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern als Herrschaftsverhältnis zu begreifen, da alle Macht von Geburt an in den Händen privilegierter Männer liege. Demgegenüber argumentierte die marxistische Soziologin Juliet Mitchell in ihrer Schrift The Woman’s Estate (1971), dass eine Theorie, die ein universales Patriarchat über alle Räume und Zeiten behauptet, für das Anliegen von Frauen, ihre politischen Rechte einzufordern, eher hinderlich sei. Eine feministische Geschichtsbetrachtung solle Frauen eine „eigene Geschichte“ zumessen, in der sie dem Patriarchat Widerstand geleistet hätten.[37]
Ute Gerhard sieht die Stärken des Konzepts Patriarchat in seinem herrschaftsanalytischen und -kritischen Gehalt. Feministische Theorie brauche einen eigenständigen Begriff, um das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis zu beschreiben.[38] Diese Annahme wurde insbesondere von Judith Butler kritisiert:
„Die politische Annahme, dass der Feminismus eine universale Grundlage haben müsse, die in einer quer durch die Kulturen existierenden Identität zu finden sei, geht häufig mit der Vorstellung einher, daß die Unterdrückung der Frauen eine einzigartige Form besitzt, die in der universalen oder hegemonialen Struktur des Patriarchats bzw. der männlichen Herrschaft auszumachen sei.“
Mit Hilfe des analytischen Konzepts Patriarchat hat es die britische Soziologin Sylvia Walby unternommen, die Benachteiligung von Frauen in allen zentralen Lebensbereichen in einer systematischen und zusammenfassenden Weise zu erklären und als empirische Realität in Geschichte und Gegenwart nachzuweisen. Um dem Begriff Patriarchat seine universalistischen und ahistorischen Tendenzen zu nehmen, kategorisierte sie sechs Strukturen, die aus ihrer Sicht durch die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen durch Männer bestimmt sind und von denen Frauen auf unterschiedliche Weise betroffen sein können: Beschäftigungssystem, Reproduktionsarbeit, Sexualität, Kultur, Gewalt und die staatliche Regelung von Geschlechterbeziehungen.[40] Eva Cyba und die Politikwissenschaftlerin Marion Löffler kritisierten, das der Kategorisierung die Annahme einer überwiegend passiven Rolle von Frauen zugrunde liege.[34][41]
Seit Mitte der 1980er Jahre findet im feministischen Diskurs und in der Gesellschafts- und Geschlechterforschung eine Auseinandersetzung um das Theorem Patriarchat statt. Kritisiert wird, dass der Begriff nicht geeignet sei, die historischen und kulturübergreifenden Formen der Nachrangigkeit von Frauen angemessen zu erfassen, weil er häufig undifferenziert und ahistorisch verwendet werde.[42][43][44]
Die Soziologin Eva Cyba argumentiert, dass dem Konzept Patriarchat ein grundlegender Mangel anhafte, da es die Aufmerksamkeit zu einseitig auf die Rolle von Männern und die von ihnen dominierten Strukturen lenke und es Konstellationen gebe, die von niemandem beabsichtigt, sondern „aufgrund ihrer Trägheit als selbstverständliche Tradition reproduziert werden.“[34] Eine Erklärung, wie es zur Reproduktion von Tradition kommt, lieferte bereits Max Weber. Darauf weist Heike Kahlert hin.[45] Demnach beruht die Fügsamkeit der Gewaltunterworfenen bei der patriarchalen Herrschaft auf „dem Glauben an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solchem“. Die Tatsache der traditionalen Herrschaft gehe „im Bewusstsein der Unterworfenen allem anderen voraus“.[46] Frauen, so schlussfolgert Kahlert, wirken in dieser Sichtweise an der Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie mit. Und es sei zu fragen, „welche Beiträge Frauen zur Reproduktion der bestehenden Geschlechterverhältnisse leisten […] und unter welchen Voraussetzungen sie ihre Zustimmung zur patriarchalen Herrschaft entziehen oder gar offen verweigern.“[45] So ermögliche Webers handlungstheoretische Sichtweise, die Aufmerksamkeit auch auf die Veränderbarkeit der Geschlechterverhältnisse zu lenken.[45] Um die konkreten historischen und gegenwärtigen Ursachen und Wirkungsweisen von Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen zu analysieren und zu erklären, müssen, so Cyba und Walby, zum Konzept Patriarchat weitere Spezifizierungen hinzukommen, beispielsweise die Verschränkung von patriarchalen Strukturen mit der (kapitalistischen) Wirtschaftsweise sowie die Rolle des Staates.[34] Die Auseinandersetzung um den Patriarchatsbegriff verweise nach Heike Kahlert darauf, dass eine differenzierte Theorie geschlechtlicher Herrschaft in Vergangenheit und Gegenwart fehle.[45] Auch die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp plädiert dafür, an Stelle eines undifferenzierten Patriarchatsbegriffes die Debatte um die Theoretisierung von Macht und Herrschaft im Geschlechterverhältnis wieder aufzunehmen.[47]
Rezeption im Film
- Annabella Misuglio: L’aggettivo donna. Dokumentarfilm, Italien 1971: Kritik des Patriarchats in Italien: analysiert die doppelte Ausbeutung der Arbeiterinnen, die Isolation der Hausfrauen und die Abrichtung der in die Schulen eingesperrten, von den anderen Menschen getrennten Kindern.
- Paolo Taviani, Vittorio Taviani: Padre Padrone – Mein Vater, mein Herr. Spielfilm, Italien 1977, original Padre Padrone: preisgekrönter Film der Tavianis über die Unterdrückung eines Sohnes durch seinen Vater, nach dem autobiographischen Roman Padre padrone von Gavino Ledda 1975.
Siehe auch
Literatur
- Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-518-58435-4, S. 212 (französisch: La domination masculine. Übersetzt von Jürgen Bolder).
- Eva Cyba: Patriarchat: Wandel und Aktualität. In: Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-17170-8, S. 17–22.
- Karin Hausen: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-37025-4, S. 359–360.
- Maria Mies: Patriarchat und Kapital: Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. 5. Auflage. Rotpunkt, Zürich 1996, ISBN 978-3-85869-050-0.
- Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy. Wiley-Blackwell, Oxford u. a. 1990, ISBN 978-0-631-14769-5 (englisch).
- Sylvia Walby: Structuring patriarchal Societies. In: Anthony Giddens, Philip W. Sutton (Hrsg.): Sociology. Introductory Readings. 3. Auflage. Polity, Cambridge 2010, ISBN 978-0-7456-4884-2, S. 30–31 (englisch).
- Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 3. Abschnitt Patriarchale und Patrimoniale Herrschaft. 5., revidierte Auflage. Mohr/Siebeck, Tübingen 2002, ISBN 978-3-16-147749-2 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Erstausgabe: 1922, Studienausgabe).
Theorien zur Patriarchatsentstehung:
- Ernest Bornemann: Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems. 8. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 978-3-596-23416-5 (Erstausgabe: 1975).
- Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats. dtv, München 1997, ISBN 978-3-423-04710-4, S. 374 (englisch: The Creation of Patriarchy/Women & History. Übersetzt von Walmot Möller-Falkenberg).
Einzelnachweise
- Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 410). 5., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-520-41005-4, S. ??.
- Androkratie ist eine Neubildung von altgriechisch ἀνήρ anḗr, deutsch ‚Mann‘, zu Genitiv ἀνδρός andrós mit dem Wortstamm κράτος kratos ‚Herrschaft‘.
- Beispielsweise: Birgit Sauer: Die Allgegenwart der „Androkratie“: feministische Anmerkungen zur „Postdemokratie“. In: Politik und Zeitgeschichte. APuZ 1–2/2011, Bundeszentrale für politische Bildung, 28. Dezember 2012.
- Patriarchat. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 31. Juli 2020
- Patriarch and Patriarchate. in: Catholic Encyclopedia.
- Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats. Campus 1991, S. 295
- vgl. Michael Mitterauer, Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft, Becksche Reihe, C.H. Beck, München 5. Aufl. 1991, ISBN 978-3-406-35575-2.
- Alfred Weber: Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Piper, München 1960, S. 125–126.
- Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980.
- Plato: Gesetze. S. 781c.
- Antike Tragödien. Aufbau, Berlin 1990, S. 155.
- Aristoteles: Politik, 7. Buch, Kapitel 16. S. 1335b.
- Gunnar Heinsohn: Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 77.
- J. T. Noonan: Empfängnisverhütung. Geschichte ihrer Beurteilung in der katholischen Theologie und im kanonischen Recht (aus d. Engl.). Mainz 1969.
- Martin Luther: Vom ehelichen Stande (1522). In: Werke. 10, II, 1907, S. 301.
- Morus, Thomas: Utopia. Reclam, Stuttgart 1964, S. 73 (Übersetzt von Gerhard Ritter).
- Betty Friedan: The Feminine Mystique. Penguin Books, London 1982, S. 13.
- Lisa Maria, Julia: Die Frau im I. Weltkrieg: Leben in Erfurt zwischen Kriegserfahrung und verändertem Rollenverständnis. In: 100jahre-ersterweltkrieg.jimdofree.com. Abgerufen am 12. Januar 2022 (Dossier von Radio F.R.E.I.: 100 Jahre – Erster Weltkrieg).
- Frigga Haug: Opfer oder Täter? Über das Verhalten von Frauen. In: Das Argument. Band 123, 1980, S. 643–649.
- Helmut Knolle: Papagenos Wunsch und die Mathematik. In: Elemente der Mathematik. Band 72, 2017, S. 122–125, doi:10.4171/EM/334.
- Helmut Knolle: Patriarchat und Bevölkerungsgeschichte. Papyrossa Köln, 2018, ISBN 978-3-89438-683-2, S. 82–83.
- Robert Filmer: Patriarcha. Hrsg.: Peter Schröder. Meiner, Hamburg 2019, ISBN 978-3-7873-3684-5.
- Beate Wagner-Hasel: Das Diktum der Philosophen: Der Ausschluss der Frauen aus der Politik und die Sorge vor der Frauenherrschaft. In: T. Späth, B. Wagner-Hasel (Hrsg.): Frauenwelten in der Antike: Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis. Stuttgart u. a. 2000, S. 198–217, hier S. 201 mit Hinweis auf R. Filmer: Patriarchia. The natural Power of Kings defended against the Unnatural Liberty of the People, 1640/1680, Nachdruck 1991 (englisch).
- Marion Löffler: Feministische Staatstheorien. Eine Einführung. Campus Verlag, 2011, S. 142 f.
- Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, ISBN 978-3-531-14005-6, S. 352 f.
- Susanne Lenward: Mythos, Mutterrecht und Magie. Zur Geschichte religionswissenschaftlicher Begriffe. Reimer, Berlin 1993, S. 78.
- vgl. auch Peter Davis: Myth, matriarchy and modernity. Johann Jakob Bachofen in German Culture 1860–1945. De Gruyter, Berlin/ New York 2010, ISBN 978-3-11-022708-6, insbesondere Kapitel 2, S. 49 ff.
- Elke Hartmann: Zur Geschichte der Matriarchatsidee. Antrittsvorlesung. Humboldt-Universität Berlin 2004 (PDF auf hu-berlin.de).
- Meret Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments. Chronos Verlag, Zürich 2011, ISBN 978-3-0340-1067-2, S. 81 f.
- Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (PDF), Stuttgart 1892, S. 61.
- Vergleiche Ernst Bornemann: Das Patriarchat. Fischer, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-596-23416-6; Neuauflage ebenda 1991.
- „Fromms Untersuchungen über den autoritären Charakter und seine Reproduktionsbedingungen in der bürgerlichen Kleinfamilie als ‚Agentur der Gesellschaft‘ (1932a, GA I, S. 42) wurden z. Zt. der Studentenbewegung wieder aufgegriffen; sie sind aber auch heute noch unverändert aktuell.“ (Helmut Johach: Erich Fromm und die Kritische Theorie des Subjekts [PDF], S. 5).
- Sara Delamont: Feminist Sociology. Sage Publications, London 2003, p. 105: „Feminist attention to Engels began in the late 1960s […]. This book [The Origins of the Family, Private Property and the State] did address sex, gender and the reproduction of labour power. Quotes form Origins were an obligatory part of the manifestos of all the Marxist women´s liberation groups, and in the early academic feminism […]. Because Engels recognised that the Victorian bourgeois family was not the acme of an evolutionary process, but merely a transitory form, his ideas were useful for feminists arguing for social change.“
- Eva Cyba: Patriarchat: Wandel und Aktualität. In: Becker, Kortendiek (Hrsg.): Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. VS Verlag, 2010, ISBN 978-3-531-92041-2, S. 17 ff.
- Sylvia Walby: Theorizing Patriarchy. John Wiley & Sons, 1990, ISBN 978-3-8252-3061-6.
- Maria Mies: Patriarchat und Kapital. 5. Auflage. Rotpunktverlag, Zürich 1996, ISBN 978-3-85869-050-0, S. ?? (erstveröffentlicht 1988)
- Claudia Opitz: Nach der Gender-Forschung ist vor der Gender-Forschung. Plädoyer für die historische Perspektive in der Geschlechterforschung. In: Rita Casale, Barbara Rendtorff (Hrsg.): Was kommt nach der Genderforschung? Die Zukunft der feministischen Theoriebildung. Transcript Verlag, Bielefeld 2008, ISBN 978-3-89942-748-6, S. 15 f.
- Ute Gerhard: Bewegung im Verhältnis der Geschlechter und Klassen und der Patriarchalismus der Moderne. In: Wolfgang Zapf (Hrsg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990. Frankfurt am Main/ New York 1991, ISBN 3-593-34574-9, S. 418–432.
- Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3-518-11722-4, S. 18.
- Sylvia Walby: Structuring patriarchal Societies. In: Anthony Giddens, Philip W. Sutton: Sociology: Introductory Readings. 3. Auflage. Polity Press, 2010, ISBN 978-0-7456-4884-2, S. 30–31 (englisch).
- Marion Löffler: Feministische Staatstheorien: Eine Einführung. Campus, 2011, ISBN 978-3-593-39530-2, S. 147.
- Barbara Holland-Cunz: Feminismus: Politische Kritik patriarchaler Herrschaft. In: Franz Neumann (Hrsg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien. 2. Auflage. Band 2. Opladen 2000, ISBN 978-3-8252-1854-6, S. 357–388.
- Karin Hausen: Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzeptes für Fraupolitik und Frauengeschichte. In: Journal für Geschichte. 5/1986, S. 12–21.
- Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung (Geschlecht und Gesellschaft), VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012, ISBN 978-3-531-18267-4, S. 117 f.
- Heike Kahlert: Das Verschwinden des Patriarchats. Modernisierungstheoretische Ansichten eines umstrittenen Theorems. In: Politische Utopien im Geschlechter- und Modernisierungskontext, Bd. 29/1, 2000, S. 50.
- Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage. Studienausgabe, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1980 (1. Auflage 1921–1922). ISBN 978-3-16-538521-2. S. 580.
- Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung (Geschlecht und Gesellschaft), VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012, ISBN 978-3-531-18267-4, S. 269.