Musikwissenschaft
Musikwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin, deren Inhalt die praktische und theoretische Beschäftigung mit Musik ist, d. h. die Erforschung und Reflexion aller Aspekte der Musik und des Musizierens. Musik wird aus der Sicht aller relevanten Disziplinen (und ihrer Erkenntniswege) betrachtet; dazu gehören kultur-, natur-, sozial- und strukturwissenschaftliche Ansätze.
Teildisziplinen
Die Musikwissenschaft erfuhr nach 1945 eine Ausdifferenzierung, die eine Gliederung in Teildisziplinen notwendig machte. Glen Haydon (1896–1966) und Friedrich Blume (1893–1975) befürworteten eine Dreigliederung:
- Historische Musikwissenschaft, auch Musikgeschichte;
- Systematische Musikwissenschaft;
- Musikethnologie, auch Ethnomusikologie, heute vorzugsweise Vergleichende Musikwissenschaft genannt.
Diese Dreigliederung löste die von Guido Adler (1855–1941) geprägte Zweiteilung in Historische und Systematische Musikwissenschaft ab. Musikethnologie zählte Adler zum Bereich der Systematischen Musikwissenschaft. Weitere Einteilungen waren die fünfgliedrige Einteilung (Historische, Systematische, Musikethnologische, Musiksoziologische und Angewandte Musikwissenschaft) von Hans-Heinz Dräger (1909–1968) sowie die viergliedrige Einteilung (Systematische Musikwissenschaft, Musikgeschichte, Musikalische Volks- und Völkerkunde sowie Landes- und Gesellschaftskundliche Musikforschung) von Walter Wiora (1907–1997).
Historische Musikwissenschaft
Der Gegenstandsbereich der historischen Musikwissenschaft ist Musik und Geschichte. Man verwendet die Quellenforschung, Notenkunde und Notentextanalyse, um Sachverhalte der Vergangenheit aufzudecken. Die Historische Musikwissenschaft will Quellen verfügbar machen und sie interpretieren. Erst seit den 1960er Jahren wendet man sich der Musik des 20. Jahrhunderts zu. Vor allem die Geschichte der Europäischen Musik (Kunstmusik) hat sie zum Inhalt. Sie hat verschiedene Teilgebiete:
- Die Musikphilologie beschäftigt sich mit Quellenforschung, Textkritik und wissenschaftlicher Edition von Musik. Musikphilologische Methoden schließen zunehmend digitale Methoden ein, vor allem in Bezug auf Modellierung und Musikkodierung sowie auf die Datenvisualisierung. Hauptgegenstand der Musikphilologie ist seit ihrer Begründung im 19. Jahrhundert die notenschriftliche Überlieferung. Analoge und digitale Klangdokumente, aber auch beispielsweise Klavierrollen geraten zunehmend in den Blick der Musikphilologie als Grundlagenforschung.
- Die Instrumentenkunde behandelt unter historischen Aspekten Bau, Akustik, Klang, Verwendung und Spielweise von Musikinstrumenten. Sie unternimmt Versuche zur Klassifikation der Musikinstrumente und liefert Hinweise zur Aufführungspraxis.
- Die Ikonografie wertet musikbezogene Bilddarstellungen als Quellen aus, um Erkenntnisse über Musikausübung und -anschauung, Instrumente, über Personen und soziale Zusammenhänge zu gewinnen.
- Die Aufführungspraxis versucht, die jeweilige Realisierung von Notentexten im räumlich-akustischen, klanglichen, besetzungs- und spieltechnischen Kontext zu erschließen. Sie schafft die Grundlagen für die historische Aufführungspraxis, die eine werk- oder epochengetreue Wiedergabe anstrebt.
- Die Interpretationsforschung fragt nach den Prozessen des Vermittelns und Deutens musikalischer Werke, sowohl in sprachlicher (hermeneutischer) als auch musikalischer (performativer) Form.
- Die Notationskunde erforscht die Aufzeichnung von Musik, wobei im Zentrum ihres Interesses die Übertragung von Werken in eine zeitgenössische Notationsform steht.
- Die Quellenkunde erschließt mit Hilfe philologischer, ikonografischer und diplomatischer Verfahren Primär- und Sekundärquellen zur Musikgeschichte.
- Die Biografik, im 19. Jahrhundert eines der hauptsächlichen Forschungsfelder in den Kulturwissenschaften, beschreibt das Leben von Personen, deren Schaffen bedeutsam für die Musikgeschichte ist.
- Die Satzkunde analysiert musikalische Strukturmerkmale wie z. B. Harmonik, Rhythmik, Kontrapunkt, Form oder Melodik. Ihre kompositionsgeschichtliche Forschung ergibt Aussagen über die geschichtliche Entwicklung der Musiktheorie.
- Die Terminologie deutet und definiert Fachbegriffe, die der Beschreibung von Musik und der Kommunikation über sie dienen. Sie zielt auf die sachliche Klärung und trägt zur allgemeinen Verständigung über Fragen der Musik bei.
- Die Stilkunde untersucht analog zu anderen Kulturwissenschaften Merkmale von Musik, die über einzelne Werke hinaus Gültigkeit besitzen, um epochen- und genrespezifische Eigenheiten herauszuarbeiten bzw. einen Personal-, Gruppen-, Gattungs-, Regional- oder Nationalstil zu charakterisieren.
Wichtige Hilfsdisziplinen sind:
Systematische Musikwissenschaft
Aus dem ursprünglichen Konzept von Adler (1885) (Stichwort: „Gesetzesmäßigkeiten“) sowie der heutigen internationalen Wissenschaftspraxis geht hervor, dass Gegenstand der systematischen Musikwissenschaft nicht in erster Linie spezifische Erscheinungsformen der Musik wie Stücke, Werke, Aufführungen, Traditionen, Gattungen, Komponisten, Stile, Perioden usw., sondern eher die Musik an sich und musikalische Phänomene im Allgemeinen sind. Um abstrakte, allgemeine Aussagen über Musik zu ermöglichen ist eine „systematische“ Vorgehensweise nötig (Beispiele: Erkenntnistheorie, Logik, Klassifikation, Messung, Empirik, statistische Analyse, Modellierung, Vorhersage). Die Systematische Musikwissenschaft ist in folgende Einzeldisziplinen gegliedert:
- Die musikalische Akustik untersucht die physikalischen Grundlagen des Schalls, der von Klangerzeugern ausgehend und unter raumakustischen Bedingungen unterschiedlich wahrgenommen wird.
- Die Musikphysiologie beschäftigt sich einerseits als Stimm- und Gehörphysiologie mit den physiologischen Gegebenheiten von Bau und Funktion des menschlichen Stimm- bzw. Hörapparates (Ohr, Hörnerv, Cortex), andererseits untersucht sie als Physiologie des Instrumentalspiels Muskelaufbau und Motorik bei der musikalischen Tätigkeit sowie die psychophysiologischen Vorgänge beim Musizieren. Ihre Ergebnisse fließen gleichermaßen in Musiktherapie wie in musikpädagogische Lehre ein.
- Die Ton- oder Hörpsychologie befasst sich als eigenständiges Teilgebiet der allgemeinen Musikpsychologie mit psychologischen Vorgängen der auditiven Wahrnehmung, psychoakustischen Erscheinungen und den Bedingungen, unter denen Reize aufgenommen, verarbeitet und beantwortet werden.
- Die Musikpsychologie beschäftigt sich mit den Grundlagen, Bedingungen und Folgen der Musikwahrnehmung in gestalt- und in kognitionspsychologischer Hinsicht. Sie untersucht sowohl Reaktionen auf elementare Parameter (Tonhöhe, Lautstärke usw.) als auch komplexe Erscheinungen wie Musikalität und die daraus entstehenden Folgen für die Musikwahrnehmung. Dazu bedient sie sich u. a. statistischer und informatischer Arbeitstechniken.
- Die Musiksoziologie untersucht mit Hilfe soziologischer Methoden die Beziehungen zwischen Musik und Gesellschaft sowie den in ihr vorhandenen Institutionen, um kausale Zusammenhänge der wechselseitigen Beeinflussung zu erkennen. Gegenstände dieser Teildisziplin sind das musikalische Schaffen und seine Rezeption, die mit den Mitteln der Sozialwissenschaft analysiert werden. Die häufige Überschneidung mit anderen Wissenschaften ergibt eine Verflechtung zu anderen Teildisziplinen, z. B. zur Musikpsychologie bei sozialpsychologischen Fragestellungen oder zur Ethnosoziologie bei Gegenständen außerhalb des westlich-europäischen Kulturraums.
- Die Musikphilosophie als Element der Systematik und bestimmend für ihre geisteswissenschaftliche Ausrichtung untersucht die Frage nach dem Wesen der Musik. Neben ontologischen und ästhetischen Aspekten der anderen musikwissenschaftlichen Teilbereiche reflektiert sie Form, Sinn, Bedeutung und kommunikative Strukturen der Musik zunehmend mit semiotischen Mitteln.
Allerdings ist diese Untergliederung der Systematischen Musikwissenschaft umstritten: Roland Eberlein und andere verstehen die musikalische Akustik, die Musikphysiologie, die Hörpsychologie, die Musikpsychologie und die Musiksoziologie nicht als Teildisziplinen der Systematischen Musikwissenschaft, sondern als Teile der Physiologie, der Akustik, Psychologie und Soziologie, welche von der Systematischen Musikwissenschaft rezipiert und mit Erkenntnissen der Historischen Musikwissenschaft oder Musikethnologie in Verbindung gebracht werden, um Theorien erstellen zu können, mit denen Aspekte von Musik erklärt werden können.[1] Da dafür die Systeme beschrieben werden müssen, welche die jeweilige Musik hervorbringen, schlug Jobst Fricke vor, den möglicherweise missverständlichen Namen „Systematische Musikwissenschaft“ in „Systemische Musikwissenschaft“ zu ändern.[2]
Kognitive Musikwissenschaft
Für eine Systematische Musikwissenschaft, die mit dem Forschungsansatz der Kognitionswissenschaft nach einer Theorie der Musik sucht, gebraucht im deutschsprachigen Raum Uwe Seifert die Bezeichnung „Kognitive Musikwissenschaft“.[3] Bei diesem Ansatz steht die Erforschung der neurologischen und neurovegetativen Wirkungen von Musik im Mittelpunkt. Die Kognitive Musikwissenschaft stützt sich in weit höherem Maß als die Musikpsychologie auf Methoden der Neurobiologie, Kognitions- und Computerwissenschaften.[4] International hat sich ein spezialisiertes Hochschulangebot in Kognitiver Musikwissenschaft entwickelt. In Europa bietet zum Beispiel die Universität Amsterdam ein entsprechendes Masterstudium an.[5]
Musikethnologie
Seit Jaap Kunst 1950 das englische Wort ethnomusicology einführte, wurden im Deutschen die Begriffe Musikethnologie oder Ethnomusikologie neben der Bezeichnung Vergleichenden Musikwissenschaft angewandt. Das Fachgebiet beschäftigt sich mit Musik außerhalb der westlichen Kunstmusik. Übrig bleibt die europäische Volksmusik, die Musik der außereuropäischen Naturvölker und die Musikkulturen, die nicht vom europäischen Abendland abhängig sind, wie zum Beispiel die asiatische Kultur.
Historische und systematische Aspekte sind hier streng mit eingegliedert. Die Abkapslung des dritten Zweiges ist jedoch wichtig, da hier die verschiedenen Kulturen verschiedene Anforderungen stellen. So gibt es nicht in jeder Kultur den Begriff der „Musik“. Und wo fängt für die Wissenschaft „Musik“ überhaupt an? Oft bringt hier nur die Feldforschung die Wissenschaft voran, wo das tägliche Leben der Menschen in möglichst unveränderter Form beobachtet wird. Forschungsbereiche:
- Musik im Kontext von Urbanität
- Musik im Kontext von Migration
- Musik im alltagsfunktionalen Kontext (Liturgie, Tanzmusik, Filmmusik, Musik und Werbung usw.)
- Instrumentenkunde
- Musik und Religion
- Rock- und Popmusik sowie Jazz und ihre Subsysteme
- Jugendsubkulturen
- Ikonografie im Hinblick auf sonische Ausdrucksformen
- Ethnomethodologie und als Ableitung aus dieser Methodik ethnomethodologische Musikpädagogik, die mit den Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung arbeitet
Geschichte der Musikwissenschaft
Musikalische Wissenschaften bis zur Aufklärung
Der in der hellenistischen Antike entwickelte Lehrplan basierte auf den beiden Säulen Musiké und Gymnastik, die die Bildung des Geistes und des Körpers vermitteln sollten.[6] Deshalb nahm das Unterrichtsfach Musiké, das sich spätestens seit Platon auch mit mathematisch-musikwissenschaftlichen Fragen befasste, in seiner ursprünglichen und weit gefassten Bedeutung einen bevorzugen Platz im antiken Bildungswesen ein. Auch die aus dieser Tradition hervorgegangene ars musica wandte sich Themenfeldern zu, die heute den Fächern Musikwissenschaft bzw. einem speziellen Forschungszweig der Musiktheorie zugeordnet werden. In der mittelalterlich-universitären Ausbildung wurde der ars musica – als einer der vier mathematischen Künste (Quadrivium) der septem artes liberales – jedoch lediglich der Platz eines propädeutisches Faches der Philosophie zugewiesen. Letztere galt wiederum seit dem Mittelalter als ancilla theologiae und nahm als untere Fakultät gegenüber der höchsten Theologischen Fakultät nur eine dienende Funktion im christlich-abendländischen Bildungswesen ein. Das blieb nicht ohne Folgen für die ars musica, die sich gegenüber der Theologie mit einschlägigen Bibelzitaten hinsichtlich ihrer geistesgeschichtlichen Relevanz zu rechtfertigen versuchte. Eine endgültige Emanzipation der Philosophischen gegenüber den Theologischen Fakultäten fand erst in der Epoche der Aufklärung ab etwa 1740 statt,[7] wobei die Musik inzwischen aus dem Kanon der universitären Ausbildung herausgefallen war.[8]
Musikwissenschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert
Lorenz Christoph Mizlers Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften (1738–1761) gilt als erste musikwissenschaftliche Gesellschaft. Mizler war mit seinen von 1736 bis 1742 gehaltenen Vorlesungen an der Leipziger Universität der erste Hochschullehrer, der nach dem Verfall der ars-musica-Tradition das Fach Musikwissenschaft gemäß einem von ihm vorgelegten Lehrplan an einer Universität unterrichtete.[9] Es war seine erklärte Absicht, „die musikalischen Wissenschaften, so wohl was die Historie anbelanget, als auch was aus der Weltweisheit, Mathematik, Redekunst und Poesie dazu gehöret, so viel als möglich ist, in vollkommenen Stand zu setzen.“[10] In der Folgezeit knüpfte die jetzt wieder an den Philosophischen Fakultäten betriebene Musikwissenschaft nicht mehr an der edlen Music-Kunst Würde (Werckmeister 1691) des antiken Musikbegriffs an, sondern wandte sich vornehmlich anderen Aufgabenfeldern zu.
Musikwissenschaft während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus
Als universitäre Disziplin sah sich die Musikwissenschaft in der Zeit der Weimarer Republik zunehmend in die Ecke gedrängt. Sie wurde konfrontiert mit Vorwürfen des „Elitarismus“ und eines „Elfenbeinturm-Daseins“.[11] Darüber hinaus musste sie ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft unter Beweis stellen und eine „aktivere Rolle in der Gesellschaft spielen.“[11] Besonders die Doppelerfahrung zahlreicher Musikwissenschaftler als Akademiker im Hochschulbetrieb als auch Praktiker im Bereich der Musik bzw. der Musikerziehung, war für diese Legitimation von besonderer Bedeutung und ermöglichte auf lange Sicht in einigen Fällen einen nahtlosen Übergang in das nationalsozialistische System.[11] Die Musikwissenschaft war 1918 zu Beginn der Weimarer Republik eine relativ junge akademische Disziplin, jedoch waren es die Vorarbeiten von namhaften Musikwissenschaftlern der ersten Generation wie z. B. Hermann Kretschmar, Guido Adler, Erich von Hornbostel, Curt Sachs und vielen anderen, die Pionierarbeit auf den Gebieten der Historischen, Systematischen und Vergleichenden Musikwissenschaft leisteten. So hatten „deutsche und österreichische Wissenschaftler in Forschung und Methodologie bahnbrechend gewirkt.“[12] Die sogenannten „Denkmäler deutscher Tonkunst“, galten in der Spätphase der wilhelminischen Epoche als Prestigeprojekt um einerseits den Wert der deutschen Musik zu belegen und gleichzeitig die Musikwissenschaft als akademisches Fach zu legitimieren und deren Nützlichkeit für die Bevölkerung unter Beweis zu stellen. Als „‚Erzieher‘ hatten sie die Aufgabe, das deutsche Volk über sein musikalisches Erbe und seine musikalische Stärke aufzuklären.“[11] Trotz all dieser Bemühungen konnte die Musikwissenschaft während der Weimarer Republik nie eine bedeutsame kulturpolitische Position einnehmen.
Noch immer nicht vollständig erforscht ist die Rolle der Musikwissenschaft im Dritten Reich. Nach der Zwangsentlassung jüdischer Wissenschaftler übernahmen vielerorts überzeugte NSDAP-Mitglieder oder Gesinnungsgenossen die Institute und führten sie als willige Kunstvollstrecker im Sinne des Regimes. So fälschte etwa der Musikwissenschaftler Wolfgang Boetticher als Mitarbeiter im Sonderstab Musik im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg angebliche Briefe von Schumann an Mendelssohn im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie. Die Musikwissenschaftler Theophil Stengel und Herbert Gerigk veröffentlichten das rassistische Lexikon der Juden in der Musik. Der Musikwissenschaftler Joseph Müller-Blattau übernahm eine Professur für Musikwissenschaft in Frankfurt am Main. Seit 1933 SA-Mitglied, forschte er für die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe der SS über das Germanische Erbe in der deutschen Tonkunst. 1936 spielte er eine unrühmliche Rolle bei der Entfernung von Wilibald Gurlitt durch den nationalsozialistischen Rektor der Universität Freiburg/Breisgau. 1937 wurde er zum Nachfolger Gurlitts berufen. Friedrich Blume hielt 1938 bei den ersten Reichsmusiktagen das Grundsatzreferat Musik und Rasse – Grundlagen einer musikalischen Rasseforschung. Heinrich Besseler, Mitglied der SA und der NSDAP forderte bei den Musiktagen der Hitlerjugend in Erfurt, „daß die Musikpflege der Universität vom Geist des neuen HJ-Liedes durchdrungen werden müsse“.[13]
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten viele belastete Musikwissenschaftler den Musikdiskurs der Bundesrepublik; sie waren zum Teil bis in die Gegenwart publizistisch tätig. Otto Emil Schumann etwa veröffentlichte 1940 „Die Geschichte der deutschen Musik“; in den 1980er Jahren folgten Standardwerke wie „Der große Konzertführer“ und das „Handbuch der Klaviermusik“. Andere Musikwissenschaftler – z. B. Hans Schnoor – verbreiteten ihre antisemitischen Ausführungen zu Mendelssohn weiter (Zitat: „Musikwunder ohne seelische Substanz“). Wolfgang Boetticher, beteiligt an der Konfiszierung jüdischen Eigentums, lehrte bis 1998 an der Universität Göttingen. Friedrich Blume war ab 1949 Herausgeber der ersten Auflage des Musiklexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Heinrich Besseler folgte einem Ruf an das neueingerichtete Ordinariat für Musikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, er erhielt den Nationalpreis der DDR.
Populäre Musik
Die Populäre Musik wird von der Popularmusikforschung behandelt. Wo sie früher eher der Musikethnologie zugerechnet wurde, ist sie heute entweder eigenständig oder Teil der Systematischen Musikwissenschaft.
Literatur
- Guido Adler: (1885). Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft. Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, 1. S. 5–20.
- Herbert Bruhn, Helmut Rösing: Musikwissenschaft. Ein Grundkurs. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-55582-4.
- Dieter Christensen, Artur Simon: Musikethnologie. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 6, 1997, Sp. 1259–1291.
- Carl Dahlhaus et al. (Hrsg.): Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Laaber, Laaber 1998
- Matthew Gardner, Sara Springfeld: Musikwissenschaftliches Arbeiten. Eine Einführung, mit einem Geleitwort von Nicole Schwindt-Gross, Kassel 2014.
- Heinrich Husmann: Einführung in die Musikwissenschaft. Quelle & Meyer, Heidelberg 1958
- Joseph Kerman: (1985). Musicology. Fontana, London, ISBN 0-00-197170-0.
- Stefan Keym, Melanie Wald-Fuhrmann: Wege zur Musikwissenschaft. Gründungsphasen im internationalen Vergleich, Kassel 2018 (Spektrum Fachgeschichte Musikwissenschaft B.1), ISBN 978-3-476-04669-7.
- Richard Middleton: (1990/2002). Studying Popular Music. Open University Press, Philadelphia, ISBN 0-335-15275-9.
- Thomas Nußbaumer: (2001). Alfred Quellmalz und seine Südtiroler Feldforschungen (1940–1942): eine Studie zur musikalischen Volkskunde unter dem Nationalsozialismus. StudienVerlag, Innsbruck, Wien, München, ISBN 3-7065-1517-2.
- Richard Parncutt: Systematic musicology and the history and future of Western musical scholarship. In: Journal of Interdisciplinary Music Studies, Band 1, 2007, S. 1–32 (online, Abruf am 22. Oktober 2021)
- Pamela M. Potter: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs. Stuttgart 2000. (Dissertation an der Yale University, 1998)
- James W. Pruett, Thomas P. Slavens: (1985). Research guide to musicology. American Library Association, Chicago, ISBN 0-8389-0331-2.
- Hugo Riemann: Grundriß der Musikwissenschaft. 2. Auflage, Quelle & Meyer, Leipzig 1914
- Helmut Rösing, Peter Petersen (2000): Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek, ISBN 3-499-55615-4.
- Albrecht Schneider: (1993). Systematische Musikwissenschaft: Traditionen, Ansätze, Aufgaben. Systematische Musikwissenschaft, Vol. 1, No. 2., S. 145–180.
- Uwe Seifert: Systematische Musiktheorie und Kognitionswissenschaft. Zur Grundlegung der kognitiven Musikwissenschaft. Orpheus Verlag für systematische Musikwissenschaft, Bonn 1993
Weblinks
- Musikwissenschaftliche Instituts- und Expertendatenbank in der ViFaMusik
- Dachverband der Studierenden der Musikwissenschaft
- Rüdiger Schumacher: „Systemische Musikwissenschaft“ Eine Stellungnahme aus der Perspektive der Musikethnologie. (Memento vom 20. September 2011 im Internet Archive) Universität zu Köln
- Universitäten, Pädagogische Hochschulen, Fachhochschulen. Deutsches Musikinformationszentrum, 2010
- Universitäten, Pädagogische Hochschulen und Fachhochschulen 2010. Studiengänge für Musikberufe. Deutsches Musikinformationszentrum (Kartografische Darstellung der Universitäten mit musikwissenschaftlichem Angebot in Deutschland)
Einzelnachweise
- Roland Eberlein: Was ist Systematische Musikwissenschaft? Vorlesung an der Universität zu Köln (PDF; 2,7 MB) walcker-stiftung.de, abgerufen am 3. August 2021.
- Jobst Fricke, Systematische oder Systemische Musikwissenschaft? Systematische Musikwissenschaft 1/2, 1993, S. 181–194.
- Uwe Seifert: Systematische Musiktheorie und Kognitionswissenschaft. Zur Grundlegung der kognitiven Musikwissenschaft. Orpheus Verlag für systematische Musikwissenschaft, Bonn 1993
- Barbara Tillmann: Music Cognition. In: Encyclopedia of Social Measurement. Elsevier, 2005, ISBN 978-0-12-369398-3, S. 795–801 (sciencedirect.com).
- Cognitive and computational musicology. In: University of Amsterdam. Abgerufen am 23. Januar 2022 (englisch).
- Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Darmstadt 1982, S. 25ff. Plato betonte in Politeia (III. Buch), die „musische und gymnastische Bildung [als …] Grundsätze für Bildung und Erziehung“ Quelle online.
- In diesem Jahr konnte der Philosoph Christian Wolff, der von der Theologischen Fakultät in Halle geächtet und 1723 vom preußischen König Friedrich Wilhelms I. seines Professoren-Amtes entbunden worden war, seine universitäre Unterrichtstätigkeit in Halle wieder aufnehmen. Erst ab diesem Zeitpunkt galt für die Philosophie und die ihr angeschlossenen Disziplinen die Freiheit der Lehre. Zum Prioritätenstreit vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten, Königsberg 1798 (Text online).
- Mattheson berichtet, dass ein Leipziger Professor bei der Prüfung von 14 Kandidaten, die die Würde eines Magisters der sieben freien Künste erwerben wollten, die Musik „als unwürdiges Glied, eigenmächtig und unchristlich“ fortließ (Johann Mattheson: Mithridat wider den Gift einer welschen Satyre genannt La musica, Hamburg 1749, S. 189 Quelle online)
- Lorenz Christoph Mizler: De usu atque praestantia Philosophiae in Theologia, Iurisprudentia, Medicina, breviter disserit, simulque Recitationes suas privatas indicat M. Laurentius Mizlerus, Leipzig 1736, S. 16: „Novam scholam musicam aperire constitui“ etc. Quelle online. Sein Vorlesungskonzept wird präziser beschrieben in „recitationes suas mathematicas philosophicas musicas de novo futur“ als Anhang zu der philosophischen Schrift Lorenz Christoph Mizler: De natura syllogismi, Leipzig 1742, S. 16 (Quelle online).
- Musikalische Bibliothek, I.4 [1738], S. 73ff.,(Quelle online)
- Vgl. Potter, Pamela: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs. Stuttgart 2000, S. 56.
- Potter: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs. S. 57.
- Zitat von Fred K. Prieberg, abgedruckt bei Ernst Klee, Kulturlexikon. S. 48.