Cisgender
Cisgender oder als undeklinierbares Adjektiv cisgender (aus lateinisch cis „diesseits“ und englisch gender „soziales Geschlecht“),[1] kurz cis,[2][3] bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem im Geburtenregister eingetragenen Geschlecht (dem Geburtsgeschlecht[4][5] oder Hebammengeschlecht[6][7]) übereinstimmt, das meist anhand der sichtbaren körperlichen Geschlechtsmerkmale des Neugeborenen beurteilt wird. Eine solche Übereinstimmung findet sich bei der weit überwiegenden Mehrheit aller Menschen: Sie identifizieren sich mit ihrem Geburtsgeschlecht – im Unterschied zu transgender oder trans Personen („jenseitig, darüber hinaus“).[8][9][10][11][12][13][14] Die Übereinstimmung von Geschlecht und Identität bezieht sich nicht auf die sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität einer Person.
Begriffsentwicklung
Die Bezeichnungen zissexuell und Zissexualismus führte der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch 1991 ein, um auszudrücken, dass es Cissexuelle geben müsse, wenn es Transsexuelle gebe, und dass das als normal unterstellte Zusammenfallen von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität keine Selbstverständlichkeit sei:[10]
„Apropos Zissexuelle. Wenn es Transsexuelle gibt, muss es logischerweise auch Zissexuelle geben. Die einen sind ohne die anderen gar nicht zu denken. Gestattet habe ich mir, die Ausdrücke Zissexualismus, Zissexuelle, Cisgender usw. einzuführen (Sigusch 1991,[15] 1992,[16] 1995[17]), um die geschlechtseuphorische Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem das Objektiv des Geschlechtsbinarismus, in dem nosomorpher Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdyphorische Minderheit, namentlich die sogenannten Transsexuellen, ganz sicher erkennen zu können glauben. Das lateinische cis- bedeutet als Vorsilbe: diesseits. […] Das lateinische trans- bedeutet als Vorsilbe: hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über – hinaus. […] Zissexuelle befinden sich folglich (vom Körpergeschlecht und damit vom kulturellen Bigenus aus gesehen) diesseits, Transsexuelle jenseits. Und das Neo-Logische am Transsexualismus ist, dass er sein eigentlich immer schon logisches Gegenstück, den Zissexualismus, grundsätzlich ins Zwielicht rückt. Indem der Transsexualismus beweist, dass auch die Geschlechtlichkeit ein kulturell Zusammengesetztes und psychosozial Vermitteltes ist, fallen Körpergeschlecht und psychosoziale Geschlechtsidentität bei den »Normalen«, die bisher die einzig »Gesunden« waren, nicht mehr fraglos zusammen. Das geht aber ans kulturell Eingemachte.“
Das englische Wort cisgender wurde ab dem Jahr 1994 in Usenet-Gruppen verwendet und 2007 von Julia Serano in ihrem Buch Whipping Girl populär gemacht.[18]
Als Personenbezeichnungen können Cis-Mann und Cis-Frau verwendet werden,[19][20] oder cis Mann und cis Frau in Anlehnung an die Wortbildungen „trans Mann“ und „trans Frau“. Stellenweise wurden Formulierungen wie geborene oder genetische Männer/Frauen benutzt, oder Biomann und Biofrau – diese können aber als diskriminierend wahrgenommen werden.[5]
Cissexismus
Als Überhöhung eines bewussten Cis-Seins findet sich stellenweise die Bezeichnung „Cissexismus“ als Synonym zu Transphobie (Angst vor transgeschlechtlichen Personen oder ihre Ablehnung; vergleiche Sexismus).[21] Eine solche Diskriminierung von Personen, die nicht cis sind, kann auch Menschen treffen, die in irgendeiner Form nicht dem normativen Bild einer Frau oder eines Mannes entsprechen, etwa wenn Männer als „Schwuchteln“ beleidigt werden, weil sie irgendwie „unmännlich“ wirken, oder wenn Frauen als „Mannweib“ beschimpft werden, weil sie sich „maskulin“ kleiden.[19]
Literatur
- Joan Roughgarden: Evolution’s Rainbow: Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People. University of California Press, Berkeley u. a. 2004, ISBN 0-520-24073-1 (englisch).
- Julia Serrano: Whipping Girl: A Transsexual Woman on Sexism and the Scapegoating of Femininity. Seal Press 2007.
- Volkmar Sigusch: Die Transsexuellen und unser nosomorpher Blick. In: Zeitschrift für Sexualforschung. Heft 3–4, 1991, S. 225–256 und 309–343.
- Volkmar Sigusch: Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr. In: Psyche. Jahrgang 49, Heft 9, 1995, S. 811–837.
- Volkmar Sigusch: Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus, Frankfurt/New York 2013, ISBN 978-3-593-39975-1, S. 244 ff. Kapitel #42 Zissexuelle und ihre Abwehr (Seitenvorschauen in der Google-Buchsuche).
Weblinks
Lexika:
- Regenbogenportal: Cis, cisgeschlechtlich. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Mai 2019.
- Wissenslücke: #Cis-Gender. FUMA – Fachstelle Gender & Diversität NRW.
- Arn Sauer: LSBTIQ-Lexikon: Cisgender, Cissexismus. Bundeszentrale für politische Bildung, 27. März 2017.
- Anja Kühne: Das Queer-Lexikon: Was bedeutet Cisgender? In: Der Tagesspiegel. 5. Januar 2016.
Artikel:
- Susanne Keuchel: Spiegelung von Diskriminierung bleibt Diskriminierung! Auf dem Weg zur diversitätsbewussten Gesellschaft. In: Kulturrat.de. 26. Februar 2020.
- Chris Green: „Cisgender“ has been added to the Oxford English Dictionary. In: Independent.co.uk. 25. Juni 2015 (englisch; “The term is defined as ‘designating a person whose sense of personal identity corresponds to the sex and gender assigned to him or her at birth’”).
- Hida Viloria: Caught in the Gender Binary Blind Spot: Intersex Erasure in Cisgender Rhetoric. In: HidaViloria.com. Eigener Blog, 18. August 2014, abgerufen am 16. Dezember 2021 (englisch; intergeschlechtliche Person mit nichtbinärer Geschlechtsidentität).
Einzelnachweise
-
Worteintrag: cisgender. In: Duden online. Mai 2019, abgerufen am 8. November 2021; Zitat: „eine mit dem körperlichen Geschlecht übereinstimmende Geschlechtsidentität habend“
Ebenda: Cisgender, der oder die. Mitte 2021, abgerufen am 8. November 2021. - Worteintrag: cis. In: Duden online. Mitte 2021, abgerufen am 19. Oktober 2020; Zitat: „eine mit dem körperlichen Geschlecht übereinstimmende Geschlechtsidentität habend“.
- Regenbogenportal: Cis, cisgeschlechtlich. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, ohne Datum, abgerufen am 30. Oktober 2020.
- Ludger Jansen: Die Ontologie des Geschlechts. In: Hella Ehlers, Heike Kahlert u. a. (Hrsg.): Geschlechterdifferenz - und kein Ende? Sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge zur Genderforschung (= Gender-Diskussion. Band 8). Lit, Berlin u. a. 2009, ISBN 978-3-8258-1647-6, S. 34–35 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
- Axel Schock: Glossar: Alles queer, oder was? In: magazin.hiv. Deutsche AIDS-Hilfe, 22. März 2013, abgerufen am 8. Juli 2020.
- Anett Hermann: Karrieremuster im Management: Pierre Bourdieus Sozialtheorie als Ausgangspunkt für eine genderspezifische Betrachtung. Doktorarbeit Wirtschaftsuniversität Wien 2004. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-8244-0784-2, S. 177 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
- Bärbel Schomers: Coming-out: Queere Identitäten zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Doktorarbeit Universität Bonn 2017. Budrich UniPress, Opladen u. a. 2018, S. 82 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
- B. Lee Aultman: Cisgender. In: TSQ: Transgender Studies Quarterly. Band 1, Nr. 1–2, 2014, ISSN 2328-9252, S. 61, doi:10.1215/23289252-2399614.
- Gary J. Gates: How many people are lesbian, gay, bisexual, and transgender? Williams Institute, Los Angeles April 2011, S. ?? (englisch; PDF: 667 kB, 8 Seiten auf williamsinstitute.law.ucla.edu (Memento vom 27. März 2017 im Internet Archive)).
- Volkmar Sigusch: Neosexualitäten: Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Campus, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37724-1, S. 210.
- Volkmar Sigusch: Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus, Frankfurt/New York 2013, ISBN 978-3-593-39975-1, S. 244 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
- American Psychological Association (APA): Guidelines for psychological practice with transgender and gender nonconforming people. In: American Psychologist. Band 70, 2015, S. 32 (englisch; doi:10.1037/a0039906).
- Pro Familia Hessen: Ein Glossar zum Thema „Sexuelle Vielfalt“. Frankfurt/M. März 2015 (PDF: 115 kB, 5 Seiten auf profamilia.de).
- Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (Hrsg.): Lexikon der kleinen Unterschiede. 2. Auflage. Stuttgart August 2016., archiviert (Memento vom 7. August 2018 im Internet Archive)
- Volkmar Sigusch: Die Transsexuellen und unser nosomorpher Blick. In: Zeitschrift für Sexualforschung. Heft 3–4, 1991, ISSN 0932-8114, S. 225–256 und 309–343.
- Volkmar Sigusch: Geschlechtswechsel. Klein, Hamburg 1992, ISBN 3-922930-07-7.
- Volkmar Sigusch: Geschlechtswechsel. Rotbuch-Taschenbuch. Rotbuch, Hamburg 1995, ISBN 3-88022-359-9.
- Avery Dame: Tracing Terminology: Researching Early Uses of “Cisgender”. In: Historians.org. 22. Mai 2017, abgerufen am 28. Januar 2022 (englisch).
- Wissenslücke: #Cis-Gender. FUMA – Fachstelle Gender & Diversität NRW, ohne Datum, abgerufen am 5. Dezember 2020.
- Anja Kühne: Das Queer-Lexikon: Was bedeutet Cisgender? In: Der Tagesspiegel. 5. Januar 2016, abgerufen am 8. Juli 2020.
- Arn Sauer: Glossar: Rassismus im Zweigeschlechtersystem – Zentrale Konzepte und Begriffe. In: TransInterSektionalitaet.org. 2010, abgerufen am 12. Juni 2020 (Eintrag: Cisgender/Cissexismus).