Ästhetische Bildung
Der Begriff ästhetische Bildung hat einen kulturphilosophischen Hintergrund in Friedrich Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Der Begriff „ästhetische Bildung“ bezeichnet einen Ansatz der Erziehungswissenschaften und der sozialen Arbeit mit ästhetischen Medien, bei dem sinnliche Erfahrungen Ausgangspunkt von Bildung und Entwicklung des Menschen sind. Damit sind nicht nur Erfahrungen gemeint, die an künstlerischen Werken gemacht werden können: Im Sinne der Herkunft des Wortes Ästhetik aus dem Griechischen (gr. aísthesis: sinnliche Wahrnehmung) zielt die ästhetische Bildung auf die Bildung der reflexiven Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit in allen Lebensbereichen. Ästhetische Bildung versteht Bildung nicht in erster Linie als Wissensaneignung, bei der das Denken der Wahrnehmung übergeordnet ist, sondern als Ergebnis sinnlicher Erfahrungen, die selber eine Quelle von Wissen und Erkenntnis sein können.
Beschreibung
Die Idee von der ästhetischen Bildung des Menschen geht auf Friedrich Schiller zurück, der sie 1795 in seinem Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen einführte. Er war der Auffassung, dass sich der Mensch im ästhetischen und spielerischen Handeln verwirklicht. So heißt es bei ihm: „[…] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt […]“.
Im 20. Jahrhundert findet diese Idee eine Verwirklichung in der Reformpädagogik und schließlich dem Bauhaus in Konzepten zur kulturellen Förderung und Bildung des Menschen. In Hinblick auf eine neue Pädagogik legt John Dewey als einer der ersten dar, dass es sich beim Lernen um einen aktiven Prozess handelt und dass Denken eine Methode der bildenden Erfahrung ist.[1] Die interaktive Anwendung von ästhetischen Medien eröffnet neue Möglichkeiten die Welt wahrzunehmen und mit ihr in Beziehung zu treten.[2] In Montessorischulen und Waldorfschulen bilden solche Erkenntnisse seit Jahrzehnten die Grundlage der Pädagogik.[3] Ästhetische Bildung steht dabei einem auf reine Wissensvermittlung ausgerichteten Bildungsangebot gegenüber.
Die ästhetische Bildung gründet auf der Überzeugung, dass sich der Mensch in der kreativen Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt. Dabei kann sie sich auf die Theoriebildung in der Psychologie[4] und Entwicklungspsychologie stützen.[5] Bildungsangebote zur musikalischen und ästhetischen Früherziehung haben hier ihre Grundlage.
Der musikalischen Früherziehung widmet sich das Orff-Schulwerk,[6] das auf der Überzeugung beruht,[7]
„dass Musizieren und Tanzen elementare Ausdrucksformen des ganzen Menschen, all seiner körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte sind, dass Sprache, Tanz und Musik für das Kind ein noch nicht differenziertes Handlungsfeld ist, dass zum Singen von Anfang an auch das Spielen auf Instrumenten kommt und dass zum Wiedergeben von gehörter oder notierter Musik oder zum Tanzen tradierter Formen auch das Selbsterfinden und -gestalten gehört.“
Neben der Entwicklungsförderung von Kindern eröffnet die ästhetische Arbeit aber auch Menschen mit einer kognitiven Behinderung oder in sozialen Brennpunkten Möglichkeiten der sozialen Integration.
Konzepte der ästhetischen Bildung sind verwandt mit pädagogischen und kulturanthropologischen Konzepten künstlerischer Therapien und der Kunsttherapie.
Außerdem ist die ästhetische Bildung auch für die Legitimationsdebatte von Sportunterricht eine wesentliche Säule.[8]
Ästhetische Bildung in der Praxis
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten ästhetischen Gestaltens in der pädagogischen Praxis: bildnerisches Gestalten, Musizieren, plastisches Gestalten, Werken, Theater spielen, Spielen im Sinne von Playing Arts oder die Arbeit mit neuen Medien.[9] Neben reformpädagogischen Einrichtungen z. B. der Waldorf- oder Montessoripädagogik gibt es verschiedene öffentliche Initiativen und Projekte mit entsprechenden Angeboten:
- Ein Beispiel für ästhetische Bildung ist das von Hugo Kükelhaus (1900–1984) konzipierte Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne, das inzwischen an verschiedenen Standorten in Deutschland wie z. B. in Wiesbaden (Schloß Freudenberg) und Hannover (Park der Sinne, Laatzen) realisiert ist und die Möglichkeit für umfassende, sinnlich-ästhetische Erfahrungen bietet.
- „Rhythm Is It!“ ist ein Projekt, in dem Kinder verschiedener Nationalitäten und aus unterschiedlichen sozialen Bereichen ein künstlerisches Tanzprojekt[10] verwirklichten. In dem gleichnamigen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2004 von Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch wird gezeigt, wie die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Sir Simon Rattle mit 250 Kindern und Jugendlichen aus 25 Nationen unter Anleitung des Choreographen und Tanzpädagogen Royston Maldoom das Ballett Le sacre du printemps von Igor Stravinsky einstudierten und zur Aufführung brachten.
- Das MUS-E Programm ist ein internationales künstlerisch-soziales Bildungsprogramm, das Kinder und Jugendliche in sozialen und interkulturellen Lernfeldern unterstützt mit dem Ziel, diese durch ästhetische Bildung nachhaltig in ihrer Persönlichkeit, Kreativität und sozialen Kompetenz zu fördern. In einem wertungsfreien Erlebnisraum innerhalb der Schule werden die eigenen Stärken sowie gegenseitige Toleranz erfahren und die Künste verschiedenster Sparten als Ausdrucksform der eigenen Gefühle entdeckt. MUS-E entfaltet seine Wirkung insbesondere in Schulen und Einrichtungen, die vorwiegend von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht werden, und trägt somit über die ästhetische Bildung zur sozialen und kulturellen Integration sowie zur Prävention gegen Gewalt und Rassismus bei. Aufgrund der Initiative der International Yehudi Menuhin Foundation, Brüssel (IYMF) wurde 1993 das MUS-E Programm begründet. In Deutschland hat seit 2013 der Verein MUS-E Deutschland e.V. das Recht, dieses Programm landesweit zu verbreiten.[11] Darüber hinaus ist MUS-E nicht nur europaweit, sondern auch in Israel und Brasilien mit jeweils nationalen Strukturen aktiv. In seiner internationalen Vernetzung ist es in seiner Art einzigartig, da der Erfahrungsaustausch zum Beispiel auf der Ebene von Erasmus+ Projekten ermöglicht wird. Die nationalen MUS-E Verantwortlichen treffen sich regelmäßig im Rahmen des International MUS-E Council.[12]
Literatur
- Dorothee Barth (Hrsg.): Musik. Kunst. Theater. Fachdidaktische Positionen ästhetisch-kultureller Bildung an Schulen. epOs-Music, Osnabrück 2016, ISBN 978-3-940255-64-8.
- Jörg Bietz, R. Laging, M. Roscher (Hrsg.): Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2005, ISBN 978-3-89676-894-0.
- John Dewey: Kunst als Erfahrung. (stw 703) Suhrkamp, Frankfurt 1987, ISBN 3-518-57716-6 (Neuauflage 2018: ISBN 978-3-518-28303-5).
- Elk Franke, Eva Bannmüller (Hrsg.): Ästhetische Bildung. Jahrbuch Bewegungs- und Sportpädagogik in Theorie und Forschung, Band 2. Herausgegeben von der Kommission Sportpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGFE). Afra, Butzbach-Griedel 2003, ISBN 3-932079-85-X.
- Bernward Hoffmann u. a.: Gestaltungspädagogik in der sozialen Arbeit. Schöningh: Paderborn 2004, ISBN 3-506-71706-5 (= UTB, ISBN 3-8252-2499-6).
- Hugo Kükelhaus: Entfaltung der Sinne. Ein Erfahrungsfeld zur Bewegung und Besinnung. Verlag Schloss Freudenberg, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-00-024810-8.
- Norbert Kühne, Peter Hoffmann: Wirklichkeit begreifen und neu erfinden – Förderung ästhetischen Empfindens und Gestaltens. In: Praxisbuch Sozialpädagogik. Band 3, Bildungsverlag EINS, Köln 2007, ISBN 978-3-427-75411-4.
- Iris Laner: Ästhetische Bildung. Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-96060-300-9.
- Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein – Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Rowohlt, Hamburg 1987, ISBN 3-499-55423-2.
- Willy Potthoff: Einführung in die Reformpädagogik. Von der klassischen zur aktuellen Reformpädagogik. Verlag Jörg Potthoff, Freiburg 2000.
- Hans-Georg Scherer, Jörg Bietz (Hrsg.): Kultur – Sport – Bildung. Konzepte in Bewegung. Czwalina, Hamburg 2000, ISBN 3-88020-378-4.
- Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen – in einer Reihe von Briefen. 1795. (Nachdruck: Reclam, Stuttgart 1965)
- Gert Selle: Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1988, ISBN 3-499-55467-4.
Quellen
- John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Beltz, Weinheim/ Basel 1993.
- Wilhelm H. Peterßen: Lehrbuch Allgemeine Didaktik. Oldenbourg Schulbuchverlag, München 2001.
- Fritz Bohnsack, Ernst-Michael Kranich: Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik. Beltz, Weinheim/ Basel 1990.
- Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta, Stuttgart 1987.
- Jean Piaget: Psychologie der Intelligenz. Klett-Cotta, Stuttgart 1980.
- Carl Orff, Gunild Keetmann: Musik für Kinder. Bände 1–5. Schott Musik International, Mainz 1950–54.
- siehe http://www.orff.de/
- Siehe Franke/Bannmüller 2003.
- Norbert Kühne, Peter Hoffmann: Wirklichkeit begreifen und neu erfinden - Förderung ästhetischen Empfindens und Gestaltens. In: Praxisbuch Sozialpädagogik. Band 3, Bildungsverlag EINS, Köln 2007, ISBN 978-3-427-75411-4.
- Wiebke Harder, Norbert Kühne: Tanz und Tanzprojekte mit Kindern. In: K. Zimmermann-Kogel u. a.: Praxisbuch Sozialpädagogik. Band 4, Bildungsverlag EINS, Troisdorf 2007, ISBN 978-3-427-75412-1, S. 200–224.
- "Entstehung von MUS-E" unter https://www.mus-e.de/
- "MUS-E International" unter https://www.mus-e.de/